Aktuelles Forum zur sozial-ökologischen Transformation
Angriffe auf die Natur sind Angriffe auf die Zukunft
Als die russischen Truppen aus Kiewer Vororten wie Butscha und Irpin abzogen, waren die Gräueltaten unübersehbar. Unübersehbar, erschütternd und doch stand unmittelbar fest, dass es nicht leicht werden wird, Schuldige für Kriegsverbrechen wie Massenhinrichtungen, wahllose Erschießungen von Zivilisten, Verschleppungen und Folter sowie den Einsatz von Sprengfallen zur Rechenschaft ziehen zu können.
Schuldige zu finden ist schwierig – vor allem wenn Schäden erst später erkennbar werden
Doch nicht nur die vielen Getöteten mit ihren persönlichen Schicksalen, die Vertriebenen und die zerstörten Städte werden die Ukrainerinnen und Ukrainer noch lange begleiten, auch der Schaden an der Umwelt ist schon jetzt dramatisch. Der Krieg hat Folgen für „Lebensgrundlagen wie Wasser, Boden und Luft […] für die ukrainische Bevölkerung und darüber hinaus“, wie die Umweltökonomin Sarah Fluchs Deutschlandfunk Nova gegenüber schildert. CNN berichtet beispielsweise rund um Irpin von verbrannter Erde, von durch Raketen verwüstetem Waldboden, umgestürzten und entwurzelten Bäumen und zurückgelassener militärischer Ausrüstung. Viele der schmucken Häuser der Stadt lägen in Trümmern; die Wälder und Grünflächen um sie herum seien nicht zugänglich. "Wir haben hier einen wunderschönen Wald, aber dieses Jahr gibt es keine Spaziergänge, kein Pilzesammeln und keine Beeren. Wir dürfen wegen der Minen und nicht explodierten Raketen nicht hineingehen", erzählt Anzhelika Kolomiec CNN gegenüber über ihre Heimat. Andernorts zeigten Satellitenaufnahmen, dass weite Teile der Ost- und Südukraine von Waldbränden heimgesucht wurden, die durch Explosionen ausgelöst und dadurch verschlimmert werden, dass Rettungsdienste, Waldarbeiter und die Armee nicht zu ihnen vordringen konnten. Auch der fruchtbare Boden, der die Ukraine zur „Kornkammer Europas“ hat werden lassen, wird durch Schwermetalle und andere potenziell giftige Stoffe verseucht. Ausgelaufene Kraftstoffe und bombardierte Industrieanlagen verschmutzen das Grundwasser. Die Folge sind unter anderem über Jahre nicht nutzbare landwirtschaftliche Flächen und damit sich über die Grenzen der Ukraine hinaus verteuernder Weizen und knapp werdende Agrarprodukte wie Sonnenblumenöl oder Soja (Wie der Krieg in der Ukraine die Lebensmittelknappheit in Nordafrika verschärft – und was zu tun ist). Sarah Fluchs bilanziert, dass Krieg die natürlichen Ressourcen für Jahrzehnte schädigt und verbraucht.
"Wenn man die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sieht, die unglaublichen Gräueltaten, Menschen, die getötet, gefoltert, vergewaltigt werden, Hunderte von ihnen ... ist es ganz natürlich, nicht an die Auswirkungen auf die Umwelt zu denken", sagt Natalia Gozak, Geschäftsführerin des Zentrums für Umweltinitiativen in Kiew, der CNN. "Es ist also unsere Aufgabe, darauf zu achten und dafür zu sorgen, dass diese Art von Verbrechen auch als Verbrechen betrachtet wird und dass die Russen für alles bezahlen - nicht nur für das Töten von Menschen, sondern auch für das Töten unserer Zukunft und die Beeinträchtigung unseres zukünftigen Wohlergehens."
Um etwaige Maßnahmen zur Renaturierung und Verfolgung der Schuldigen einleiten zu können, sind breite Forschung und präzise Informationen unerlässlich, doch die Informationslage über Zerstörungen der Umwelt ist in Kriegen nicht einfach. Zunächst ist Forschung und Dokumentation in Kampfgebieten und besetzten Gebieten zu Kriegszeiten lebensgefährlich. Aber auch nachdem Gebiete zurückerobert wurden oder gar nicht erst besetzt wurden, sind sie häufig vermint und mit Munition übersät. Beispielsweise seien allein auf dem Gelände des Tusli-Lagunen-Nationalparks bei Odessa bisher 200 Bomben gefallen. Darüber hinaus ist, wie bei allen Informationen im Krieg, auch hinsichtlich der Umweltschäden die Deutungshoheit umkämpft, mit Folgen für die Ursachenforschung, die zur Beseitigung der Ursachen unerlässlich ist, und mit politischen Folgen.
Ein gutes Beispiel für den Kampf um die Deutungshoheit sind Berichte über Delphinkadaver im Schwarzen Meer, von deren Strandung Hunderte dokumentiert sind. Laut Iwan Rusew, dem Direktor des Tusli-Lagunen-Nationalparks, sei es unmöglich, ihre genaue Zahl zu bestimmen, auf Grundlage der Meldungen ausländischer Kollegen gehe er aber von mehreren tausend toten Delphinen aus. Während nun Rusew die russische Seite für einen Teil der Tode verantwortlich macht, da das starke Sonar, das Schiffe zur Ortung nutzten, innere Blutungen und Schocks auslösen könnte und der Geschützlärm den Delphinen die Orientierung raubte. Bayram Öztürk, der Vorsitzende der Turkish Marine Research Foundation, hält diese Begründung für plausibel, auch wenn es angesichts der schwierigen Umstände für Studien noch keine Beweise gäbe. Laut NZZ stellen russische Forscher jeden Zusammenhang in Abrede. Allerdings führten sie divergierende Erklärungen an: „So meint Irina Logominowa, die Leiterin von Delfa, die Zahl der angeschwemmten Kadaver bewege sich im Rahmen der statistischen Schwankungsbreite, obschon sie heuer nach sechs Monaten höher sei als im gesamten Vorjahr. Sie widerspricht auch ihrer Kollegin in Sewastopol, die eine mysteriöse Virusinfektion hinter den Todesfällen vermutet. Logominowa glaubt, die Delphine seien an Krankheiten gestorben, die für diese Jahreszeit üblich seien.“
Obschon die Frontlinien des Krieges offenkundig einen Einfluss darauf hätten, welche Gründe für die Strandungen in den Vordergrund gestellt werden, schlossen sich die Erklärungen gegenseitig nicht aus. Da die Delphinpopulation 2021 im Schwarzen Meer eine Viertelmillion betrug, sei sie zwar nicht direkt bedroht. Doch die Turkish Marine Research Foundation warnte davor, dass der Krieg eine erhebliche zusätzliche Gefährdung für das gesamte Ökosystem darstelle. Sie erwähnt dabei nicht nur das Problem Sonar, sondern auch die Verschmutzung durch Munition oder Schäden nach Kampfhandlungen. Höre der Krieg nicht bald auf, drohe eine veritable „Krise der Biodiversität“.
Das Völkerrecht als Schutz?
Weil eine solche Bedrohung der Biodiversität auch eine Bedrohung der Lebensgrundlagen darstellt, verbietet das Völkerrecht, so wie die eingangs angesprochenen Kriegsverbrechen, auch umweltschädigende Kriege. Ausgerechnet auf Initiative der Sowjetunion wurde nach dem Vietnamkrieg und dem Einsatz des Kampfmittels Agent Orange durch die USA zur Entlaubung des Dschungels, 1976 die ENMOD-Konvention der Vereinten Nationen beschlossen, unter anderem mit den Vertragsparteien Russland und der Ukraine. Die juristische Terminologie unterscheidet zwischen Umwelt und Ökologie. In ENMOD ist die Ökologie im Sinne der natürlichen Umwelt gemeint; ihre bewusste Manipulation ist untersagt. Das 39. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 ächtet darüber hinaus nicht nur die absichtliche Schädigung der Umwelt, sondern auch (Umwelt-) Kollateralschäden, sofern sie lang andauernd, ausgedehnt und schwerwiegend sind. Hier werde der Begriff Umwelt so verstanden, dass er auch die vom Menschen geschaffene Umwelt, also Kulturlandschaft, Infrastruktur oder Wohnungen, einschließt und führt damit ein absolutes Verbot nachhaltiger Umweltschäden in das humanitäre Völkerrecht ein.
Auch wenn Mittel der Kriegsführung aus militärische Sicht notwendig erscheinen, sind sie folglich nicht zulässig, wenn erkennbar oder zu vermuten ist, dass sie lang andauernde und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen. Umweltwissenschaftler:innen und -aktivist:innen sammeln bereits Beweise für die Schäden, die der Natur durch den Krieg zugefügt werden, und hoffen, diese in Zukunft nutzen zu können.
Beispielsweise hat die Umwelt-NGO Save Dnipro laut CNN einen Chatbot entwickelt, um den Zugang zu Daten über Umweltverschmutzung zu erleichtern und mutmaßliche Umweltkriegsverbrechen zu melden. Die Liste werde zusammengestellt und anhand offener Quellen überprüft, die Überprüfung und angemessene Untersuchung aber obliegt den Behörden.
Allerdings ist es ein schwieriges Unterfangen Kriegsentschädigungen für Umweltschäden zu erhalten. Laut Zwijnenburg liege die Messlatte nach geltendem Völkerrecht sehr hoch: "Um die Schwelle zu erreichen, bei der Regierungen für Umweltschäden zur Rechenschaft gezogen werden können, muss es sich um schwere, langfristige Umweltschäden handeln, bevor man tatsächlich von einem Kriegsverbrechen sprechen kann. Und das einzige Mal, dass diese Schwelle überschritten wurde, war 1991, als der Irak Hunderte von Ölquellen in Kuwait in Brand setzte." Auch weil anders als bei völkerrechtswidrigen Erschießungen von Zivilisten schwerlich einzelne Täter ausgemacht werden können. Dazu kommt, dass es in der internationalen Ordnung an Zwangsmechanismen fehle, um das Land oder einzelne Personen – sei es für Kriegs- oder Umweltverbrechen – zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Wiederaufbau muss die Ökologie mitdenken
Der Umweltanwalt Carl Bruch gibt der Süddeutschen Zeitung gegenüber zu bedenken, dass es für die Betroffenen ohnehin viel wichtiger sei, das Kriegsleid zu lindern, sobald die Waffen ruhen. Dazu gehöre, schnell zu prüfen, wie schwer die Umwelt in Mitleidenschaft gezogen wurde. Anders gesagt, müsse der Wiederaufbau das Ökologische mitdenken. Nur dann könnten wieder gesunde Lebensgrundlagen für die Menschen in der Ukraine entstehen.
Verständlicherweise konzentriert sich die Politik aktuell vor allem auf menschliches Leid, doch macht die unter schwierigen Umständen jetzt schon erfolgende Forschung deutlich, dass die Politik und die Zivilgesellschaft nicht aus den Augen verlieren sollten, dass schon jetzt und nach einem hoffentlich baldigen Kriegsende jahrzehntelange Anstrengungen für die Natur nötig sind, um die Zukunft der Ukraine zu sichern und wohl auch das europäische Ökosystem zu bestehen zu lassen.
Wer muss und kann die Langfristperspektive jetzt schon in den Blick nehmen? – Diskutieren Sie mit…
Quellen:
Belege für Kriegsverbrechen in Butscha - tagesschau.de (21.4.2022)
Wie Kriege die Umwelt schädigen und Lebensgrundlagen zerstören - Deutschlandfunk Nova (8.4.2022)
Krieg gegen die Umwelt - Greenpeace (3.2003)
Ukraine: Wie Kriege die Umwelt schädigen - Institut der deutschen Wirtschaft (4.3.2022)
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