Öko-soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Krise - Debatten zur Umwelt- und Sozialethik in der Katholischen Kirche in Bayern

Handeln: Ausgewählte Handlungsfelder zum Weltengemeinwohl

1. Politik: Die besondere Rolle der Demokratie für das Gemeinwohl

Die rechtsstaatliche demokratische Regierungsform wird am ehesten dem Anspruch der Selbstbestimmung und Würde des Menschen gerecht. Daraus resultiert die besondere Rolle der Demokratie für das nationale und internationale Gemeinwohl. Aus diesem Grund ist es vorrangig, auf nationaler Ebene demokratische Institutionen zu stärken und den Primat der Politik wiederherzustellen. Dies gilt auch auf europäischer und internationaler Ebene.

 

Aber auch diese Regierungsform kann missbraucht oder gar zerstört werden. Dazu gibt es viele Beispiele in der Geschichte und eines davon ist seit ca. drei Jahrzehnten die schleichende Aushöhlung von Demokratie durch das neoliberale Wirtschaftssystem. Hier kommt wieder der vielzitierte Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Tragen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ Demokratie ist also auf Menschen angewiesen, die ein demokratisches Gemeinwesen wollen und auf vielfältige Weise mittragen. Gerade deshalb kann Demokratie nicht einfach von außen oktroyiert werden und muss Formen finden, die der jeweiligen Kultur und Geschichte eines Landes oder Region entsprechen.

 

„Laudato Si‘“Nr. 196: Was geschieht mit der Politik? Wir erinnern an das Prinzip der Subsidiarität, das auf allen Ebenen Freiheit für die Entwicklung der vorhandenen Fähigkeiten gewährt, zugleich aber von dem, der mehr Macht besitzt, mehr Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl fordert. Es ist wahr, dass heute einige Wirtschaftszweige mehr Macht ausüben, als die Staaten selbst. Man kann aber nicht eine Wirtschaft ohne Politik rechtfertigen – sie wäre unfähig, eine andere Logik zu begünstigen, die die verschiedenen Aspekte der gegenwärtigen Krise lenken könnte. Die Logik, von der man keine aufrichtige Sorge um die Umwelt erwarten kann, lässt auch nicht erwarten, dass sie besorgt ist, die Schwächsten einzubeziehen, denn „in dem geltenden ‚privatrechtlichen‘ Erfolgsmodell scheint es wenig sinnvoll, zu investieren, damit diejenigen, die auf der Strecke geblieben sind, die Schwachen oder die weniger Begabten es im Leben zu etwas bringen können“.

2. Wirtschaft: Paradigmenwechsel

Die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften sollten sich von der neoliberalen Ideologie verabschieden. Wettbewerb in einem gewissen Rahmen ist durchaus sinnvoll und man kann ihm auch eine andere Richtung geben, indem man ihn nicht nur ökonomischen, sondern auch ökologischen oder sozialen Kriterien unterwirft. Die Welt ist nicht nur durch den „Kampf ums Dasein“ geprägt, wie es der falsch verstandene Darwinismus beschreibt, sondern vor allem durch gegenseitige Verbundenheit und Kooperation. In vielen Kulturen waren genossenschaftliche und gemeinnützige Wirtschaftsformen weit verbreitet.

 

Paradigmenwechsel ist das Gebot der Stunde: Weg vom neoliberalen Wirtschaftssystem hin zur öko-sozialen Marktwirtschaft.

 

„Laudato  Si‘“ Nr. 129: Damit es eine wirtschaftliche Freiheit gibt, von der alle effektiv profitieren, kann es manchmal notwendig sein, denen Grenzen zu setzen, die größere Ressourcen und finanzielle Macht besitzen. Eine rein theoretische wirtschaftliche Freiheit, bei der aber die realen Bedingungen verhindern, dass viele sie wirklich erlangen können, und bei der sich der Zugang zur Arbeit verschlechtert, wird für die Politik zu einem widersprüchlichen Thema, das ihr nicht zur Ehre gereicht.

3. Umwelt - Schöpfung: Eigenwert der Schöpfung respektieren

Mit der neoliberalen Wachstumsideologie stößt der Mensch an die Grenzen des Planeten und damit auch an seine eigenen Grenzen. Er zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen. Beim Klimawandel kommt noch die Ungerechtigkeit hinzu, dass vor allem die Menschen darunter leiden, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Öffentliche Güter, wie z. B. Wasser und bald auch die Atmosphäre werden privatisiert oder nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet. Erst wenn sich die Umweltverschmutzung immer mehr als Wachstumshindernis und Wirtschaftsbremse entwickelt, so wie es derzeit in China passiert, wird der Umweltschutz als Wirtschaftsfaktor entdeckt.

 

Ganz anders Papst Franziskus: Er weist in seiner Enzyklika „Laudato Si‘“ auf den Eigenwert eines jeden Geschöpfes hin, sei es aus der belebten oder unbelebten Natur, unabhängig vom wirtschaftlichen Wert.

4. Gesellschaftspolitik: Gemeinschaften – Religionsgemeinschaften

Die neoliberale Wirtschaftsphilosophie hat über die vergangenen Jahrzehnte immer mehr den alltäglichen Lebensstil der Menschen erfasst. Das Leben wird nur noch als „Kampf“ oder als „Wettbewerb“ dargestellt. Man ist selbst schuld, wenn man verliert oder gewinnt. Die „Atomisierung“ der Gesellschaft schreitet voran, manchmal auch gefördert durch soziale Netzwerke und moderne Medien. „There is no society“, soll bereits in den 1980er Jahren Margaret Thatcher gesagt haben. Es gibt keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch den „Markt“. Welche Rolle man darin spielt, Unternehmer, Konsument, Investor oder Arbeiter, ist zweitranging.

 

„Laudato Si‘“Nr. 135: Ohne Zweifel ist eine ständige Aufmerksamkeit nötig, die alle implizierten ethischen Aspekte berücksichtigen lässt. Aus diesem Grund muss eine verantwortungsbewusste und breite wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte gewährleistet werden, die in der Lage ist, alle verfügbaren Informationen in Betracht zu ziehen und die Dinge beim Namen zu nennen. Mitunter wird nicht die gesamte Information auf den Tisch gelegt, sondern den eigenen Interessen entsprechend – seien sie politischer, wirtschaftlicher oder ideologischer Natur – selektioniert. Dies macht es schwierig, ein ausgewogenes und kluges Urteil über die verschiedenen Fragen zu fällen, das alle Variablen im jeweiligen Zusammenhang berücksichtigt. Es braucht Raum für Diskussion, wo alle, die auf irgendeine Weise direkt oder indirekt betroffen sein mögen (Landwirte, Konsumenten, Verantwortungsträger, Wissenschaftler, Saatgutproduzenten, Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft von pestizidbehandelten Feldern und andere), ihre Schwierigkeiten zum Ausdruck bringen oder Zugang zu breiten und zuverlässigen Informationen haben können, um Entscheidungen im Hinblick auf das gegenwärtige und zukünftige Gemeinwohl zu treffen.

 

Gerade in der Katholischen Soziallehre steht der Mensch, mit seiner Würde, mit seiner Personalität im Mittelpunkt. Nach den Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität sieht sich der einzelne Mensch eingebunden in der Gesellschaft. Es sollte als gesellschaftspolitische Aufgabe betrachtet werden, das „Wir-Empfinden“ des Einzelnen zu stärken und zu fördern.4

 

„Laudato Si‘“Nr. 201: Der größte Teil der Bewohner des Planeten bezeichnet sich als Glaubende, und das müsste die Religionen veranlassen, einen Dialog miteinander aufzunehmen, der auf die Schonung der Natur, die Verteidigung der Armen und den Aufbau eines Netzes der gegenseitigen Achtung und der Geschwisterlichkeit ausgerichtet ist.

 

„Laudato Si‘“ Nr. 231: Die Liebe voller kleiner Gesten gegenseitiger Achtsamkeit betrifft auch das bürgerliche und das politische Leben und zeigt sich bei allen Gelegenheiten, die zum Aufbau einer besseren Welt beitragen. Die Liebe zur Gesellschaft und das Engagement für das Gemeinwohl sind ein hervorragender Ausdruck der Nächstenliebe, die nicht nur die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen angeht, sondern auch die „Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen“. Darum schlug die Kirche der Welt das Ideal der „Kultur der Liebe“ vor.

5. Lebensstil: Gutes Leben – Buen Vivir – für alle

Die Gemeinwohldebatte ist eng verbunden mit der Frage nach dem „Guten Leben“, wie sie in den letzten Jahren besonders in südamerikanischen Ländern unter dem Begriff „buen vivir“ diskutiert wurde. Zwar gibt es nicht einfach die eine korrekte, allgemein akzeptierte und eindeutige Definition dieses Begriffs, wie es auch keine Definition für das Gemeinwohl gibt. Aber gemeinsam ist den verschiedenen Formen, in denen „buen vivir“ in Lateinamerika verstanden wird, ein weniger individualistisches und eher gemeinschaftliches Verständnis von gutem Leben, das vor allem auch die Harmonie mit der Natur betont. Der plurale Charakter des Begriffs kann als Chance betrachtet werden, den Begriff für kulturelle, persönliche, religiöse oder wertespezifische Eigenheiten offen zu halten. Für unser eigenes Verständnis von Gemeinwohl kann der Begriff helfen, eine einseitige Betonung von wirtschaftlichem Fortschritt und individuellem materiellen Wohlergehen zu vermeiden, die spirituelle und gemeinschaftliche Dimensionen eines wirklich erfüllten Lebens wieder zu entdecken und offen zu werden für Anregungen aus anderen Kulturkreisen.

 

„Laudato Si‘“ Nr. 204: Die gegenwärtige Situation der Welt „schafft ein Gefühl der Ungewissheit und der Unsicherheit, das seinerseits Formen von kollektivem Egoismus […] begünstigt“. Wenn die Menschen selbstbezogen werden und sich in ihrem eigenen Gewissen isolieren, werden sie immer unersättlicher. Während das Herz des Menschen immer leerer wird, braucht er immer nötiger Dinge, die er kaufen, besitzen und konsumieren kann. In diesem Kontext scheint es unmöglich, dass irgendjemand akzeptiert, dass die Wirklichkeit ihm Grenzen setzt. Ebenso wenig existiert in diesem Gesichtskreis ein wirkliches Gemeinwohl.