Öko-soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Krise - Debatten zur Umwelt- und Sozialethik in der Katholischen Kirche in Bayern

Urteilen: Weltengemeinwohl als Gegenentwurf zum neoliberalen Wirtschaftssystem

Der Begriff „Gemeinwohl“ wird schon in der antiken Philosophie ausgiebig diskutiert. In der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie nimmt das Gemeinwohl im theoretischen Diskurs durchaus noch eine zentrale Rolle ein, aber in den Wirtschaftswissenschaften und in der realen Wirtschaft kommt der Begriff praktisch nicht mehr vor. Ist es schon schwierig, auf nationaler Ebene eine allgemeingültige Definition des Gemeinwohls zu finden, wird es noch schwieriger werden, auf internationaler Ebene sich auf eine allgemeingültige Definition des „Weltgemeinwohls“ zu verständigen. Wahrscheinlich bedarf des dazu ähnlich lange Anstrengungen, wie sie für die Formulierung der Allgemeinen Menschenrechte der UN von 1948 nötig waren.

 

In der katholischen Soziallehre ist das Gemeinwohl ein zentrales Prinzip für das Zusammenleben und findet immer wieder Eingang in päpstliche Schreiben. In der Enzyklika „Pacem in terris“ von 1963 sieht Papst Johannes XXIII. die Sorge für das Gemeinwohl als Existenzgrund der staatlichen Gewalt und spricht bereits von einem „universalen Gemeinwohl“. Eine zentrale Rolle spielt das „Gemeinwohl“ in der Pastoralen Konstitution „Gaudium et spes“ des II. Vatikanischen Konzils vom 7. Dezember 1965.

Definitionsversuche

Auf der Basis der gleichen personalen Würde eines jeden Menschen versteht die katholische Soziallehre dabei Gemeinwohl in einer doppelten Weise: Zum einen ist damit inhaltlich das „Wohl aller und eines jeden“ („Sollicitudo rei socialis“ Nr. 38) gemeint, zum anderen formal „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ („Gaudium et spes“ Nr. 26; aufgegriffen von Papst Franziskus in „Laudato Si‘“, Nr. 156ff). Konkreter kann man mit Erzbischof Dr. Ludwig Schick auf drei wesentliche Elemente des so verstandenen Gemeinwohls verweisen:

 

„1. Das Gemeinwohl beruht auf der Achtung der Würde und der unveräußerlichen Grundrechte jeder Person. Der Mensch kann sich nur dann entfalten und sein Glück finden, wenn ihm das Recht zum Handeln nach der rechten Norm seines Gewissens, das Recht auf Schutz des Privatlebens und auf die rechte Freiheit, und zwar auch im religiösen Bereich („Gaudium et spes“ Nr. 26) ermöglicht wird.

 

2. Das Gemeinwohl verlangt das ‚soziale Wohl‘ und die Entwicklung der Gemeinschaft. Dazu gehört, was für ein wirklich menschliches Leben notwendig ist: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Arbeit, Bildung, Information und Recht auf Ehe und Familie.

 

3. Zum Gemeinwohl gehören schließlich der Friede und die Sicherheit durch eine funktionierende öffentliche Gewalt und durch den Rechtsschutz der Verteidigung vor Gericht.“2

 

Überlegungen von Papst Johannes XXIII. aufgreifend hat das II. Vatikanische Konzil darauf hingewiesen, dass aufgrund „der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit“ das Gemeinwohl „heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen“ („Gaudium et spes“ Nr. 26): Nicht nur das Gemeinwohl einzelner Nationen ist anzustreben, sondern das Weltgemeinwohl ist in den Blick zu nehmen.

 

Eine wichtige Folgerung aus diesem Verständnis von Gemeinwohl ist die allgemeine Bestimmung der Güter dieser Welt, die u.a. die Sozialpflichtigkeit des Privateigentums, die effektive Möglichkeit des Erwerbs von Eigentum für alle, die Hilfe von Menschen in extremen Notlagen, die Solidarität mit Entwicklungsländern und eine effektive Option für die Armen, für den Arten-, Boden-, Gewässer- und Klimaschutz sowie das strikte Eingrenzen der privaten Ausbeutung natürlicher Ressourcen verlangt, und die nicht nur die Arbeit der Kirche, sondern jedes wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Handeln bestimmen muss.

 

Die Idee des Gemeinwohls ist im Sinn der kirchlichen Soziallehre eng mit der Idee der Solidarität verbunden, die verstanden wird als „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen“ („Sollicitudo rei socialis“ Nr. 38) und als ein Ordnungsprinzip für Institutionen, das hilft ,Strukturen der Sünde‘ zu überwinden und Strukturen der Solidarität zu schaffen: „Jeder Einzelne und die gesellschaftlichen Gruppen können und müssen zur Verwirklichung des Gemeinwohls beitragen, und sie sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu auch aufgerufen. In erster Linie ist das Gemeinwohl jedoch die ethische Orientierungsgröße für die strukturierte politische Gemeinschaft. Beim Gemeinwohl geht es um den Zustand und die Ausrichtung der verfassten Gesellschaft, der polis, also zum Beispiel der Stadt oder des Staates, auf das Wohl aller.“3

 

Die kirchliche Soziallehre richtet sich nicht nur an gläubige Christen, sondern ist ein Dialogangebot an alle Menschen guten Willens und damit eine Einladung, gemeinsam – über die unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen hinweg – nach einem gemeinsamen und vertieften Verständnis von Gemeinwohl zu suchen.

 

„Laudato Si‘“Nr. 156: Die Humanökologie ist nicht von dem Begriff des Gemeinwohls zu trennen, einem Prinzip, das eine zentrale und Einheit schaffende Rolle in der Sozialethik spielt. Es ist „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“