Öko-soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Krise - Debatten zur Umwelt- und Sozialethik in der Katholischen Kirche in Bayern

Sehen: Das neoliberale Wirtschaftssystem - ein Weg in die Sackgasse?

„Diese Wirtschaft tötet“, so Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“. Dabei denkt er an eine „Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ deren deutliche Anzeichen er gerade in unserer Zeit wahrnimmt („Evangelii Gaudium“ Nr. 53). Dabei geht es ihm nicht nur um eine Systemkritik, sondern positiv um das menschliche Ziel des Wirtschaftens: Das Leben aller und vor allem der Armen zu verbessern. Es geht um die Chancen für einen nachhaltigen „Wohlstand in seinen vielfältigen Aspekten“ („Evangelii Gaudium“ Nr. 192) für alle in einer Wirtschaft, deren Bezugsgröße nicht die individuelle Nutzenmaximierung zu Lasten Schwächerer sein kann. Es darf nicht sein, dass „(…) sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren abspielt. (…) Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. (…) Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die ‚Wegwerfkultur‘ eingeführt, die sogar gefördert wird.“ („Evangelii Gaudium“ Nr. 53). Konsequenterweise ergibt sich die Frage, welche Wirtschaft bzw. welche Strukturen und Entwicklungen tatsächlich für diese gravierenden, zu korrigierenden Fehlentwicklungen verantwortlich sind.

1. Wachsende Ungleichheit

Der Papst führt die wachsende Ungleichheit auf Ideologien zurück, „die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen“ („Evangelii Gaudium“ Nr. 56) und deren mehr oder minder radikale Versionen heute oft unter dem Stichwort „Neoliberalismus“ zusammengefasst werden. Eine wirtschaftswissenschaftliche Definition des Neoliberalismus würde aufgrund seiner mannigfaltigen Facetten und historischen Wandlungen den Rahmen dieses Papiers sprengen. Ebenso sollen die Einflüsse der „Freiburger Schule“ und der „Chicago Schule“ auf das neoliberale Wirtschaftssystem nicht weiter erläutert werden. Mit Neoliberalismus sollen in diesem Zusammenhang die Leitideen eines Wirtschaftssystems gemeint sein, das sich besonders in den USA (Ronald Reagan) und Großbritannien (Margaret Thatcher) in den 1980er Jahren entwickelte und durchgesetzt hat. Das Ende des Ost-West Konflikts beschleunigte dessen Globalisierung in den verschiedensten Variationen.

 

Nach der neoliberalen Wirtschaftslehre löst der Markt alle Wirtschaftsprobleme der Menschheit, vorausgesetzt der Staat bzw. die Staaten lassen der Wirtschaft nicht nur die nötige Freiheit, sondern werden selbst Teil des Systems als marktkonforme Staaten. Der Erfolg eines Staates wird nur noch am Wettbewerb und am wirtschaftlichen Wachstum gemessen. Mit der Ökonomisierung des Staatswesens geht die Ökonomisierung der Gesellschaft einher. Aus dem „homo politicus“ wird der „homo oeconomicus“. Der Wettbewerb wird als „alternativloses Naturphänomen“ dargestellt. Der Wettbewerb erzeugt Gewinner und Verlierer und fördert die Ungleichheit der Gesellschaft. Nicht nur Staaten, sondern jeder Mensch wird nur noch in seiner Rolle als „Unternehmer“ betrachtet. Ausbeutung war gestern, heute ist die freiwillige Selbstausbeutung angesagt. Nur wer sich täglich selbst optimiert, coacht, updated und sich zum Perfektionismus zwingt, kann sich gegen seine Mitkonkurrenten durchsetzen. Auf Krankheit, Lohnkürzungen, Arbeitsplatzwechsel oder gar Arbeitsplatzverlust muss jeder selbst flexibel reagieren, wie es der Markt verlangt. Gesellschaftspolitisch wird dadurch die Atomisierung, die Individualisierung der Gesellschaft vorangetrieben.

 

„Laudato Si‘“ Nr.158: In der gegenwärtigen Situation der globalen Gesellschaft, in der es so viel soziale Ungerechtigkeit gibt und immer mehr Menschen ausgeschlossen und ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt werden, verwandelt sich das Prinzip des Gemeinwohls als logische und unvermeidliche Konsequenz unmittelbar in einen Appell zur Solidarität und in eine vorrangige Option für die Ärmsten. Diese Option bedeutet, die Konsequenzen aus der gemeinsamen Bestimmung der Güter der Erde zu ziehen, doch – wie ich im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (Nr. 123) auszuführen versuchte – verlangt sie vor allem, sich die unermessliche Würde des Armen im Licht der tiefsten Glaubensüberzeugungen vor Augen zu führen. Es genügt, die Wirklichkeit anzuschauen, um zu verstehen, dass diese Option heute ein grundlegender ethischer Anspruch für eine effektive Verwirklichung des Gemeinwohls ist.

2. Liberalisierung beeinflusst Daseinsvorsorge

Auf nationaler und internationaler Ebene befinden sich Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung auf dem Vormarsch. So ist die immer weitergehende Liberalisierung des Welthandels in den Statuten wichtiger internationalen Organisationen wie z. B. Weltbank, IWF, WTO und OECD als Ziel festgehalten und steht bei bilateralen Freihandels- und Investitionsschutzabkommen im Vordergrund. Gegenseitig länderübergreifend verpflichtende Abkommen zur Förderung sozial Schwacher finden sich dabei selten (allenfalls Schutzbestimmungen, Ausländer nicht schlechter zu stellen). Sozialer Ausgleich solle oder könne sich als „Nebenprodukt“ einer möglichst weltweiten Herrschaft der „freien“ Wirtschaft ergeben, so die naive Annahme. Die Privatisierung erstreckt sich folgerichtig zunehmend auf alle Lebensbereiche: Daseinsvorsorge, Wasser-, Energie- und Immobilienwirtschaft, Verkehr, Medien, Kultur, Bildung, Wissenschaft, Sport, Gesundheitswesen und vieles mehr.

 

Mit der Einführung von Schiedsgerichten im Rahmen von Freihandelsabkommen wird Schritt für Schritt selbst das Justizwesen privatisiert. Grundlegende Rechtsänderungen zugunsten des Wohls der eigenen Bevölkerung könnten dann in einem weltweiten neoliberalen Wirtschaftsregime von Strafzahlungen bedroht sein – und Demokratien wirksam entmachten. Internationale Schiedsgerichte zum Schutz wirtschaftlich Schwächerer sind nicht vorgesehen: Diese sind – folgt man der derzeitigen Entwicklung – scheinbar entbehrlich oder unwichtig. Besonders erfolgreich konnten sich die Deregulierung und Privatisierung bisher im Finanz- und Kapitalwesen durchsetzen, obwohl die weltweite Finanzkrise seit 2007/2008 gezeigt hat, wie krisenanfällig das globale Finanzsystem geworden ist und wie dramatisch die Konsequenzen von Finanzkrisen für die betroffenen Länder sein können. Bis heute leiden viele dieser Länder an einem Ausmaß an Arbeitslosigkeit, das für einen großen Teil der Bevölkerung, gerade auch junger Menschen, von einer aktiven Beteiligung am Wirtschaftsleben ausschließt und Hoffnung und Lebenschancen zerstört.

3. Multinationale Konzerne dominieren

Unter dem Deckmantel des Wettbewerbs drängen die multinationalen Konzerne und ihre Lobbyisten mit Hilfe der Politik und internationalen Organisationen besonders die Länder des Südens, ihre Märkte zu öffnen und den Handel zu liberalisieren. Soziale und ökologische Nachteile sind entweder nachrangig – oder deren Lösbarkeit wird erst auf der Basis eines freien Welthandels propagiert. Tatsächlich geht es jedoch erst einmal um Marktbeherrschung und Gewinnmaximierung, der Rest ist ein unsicheres „vielleicht“. Die neoliberale Wirtschaftslehre entpuppt sich in diesem Punkt als Ideologie, wenn z. B. besonders der Westen von den Ländern des Südens eine Marktöffnung verlangt, selbst aber sich gegen unliebsame Konkurrenz durch Zölle, Auflagen oder Subventionen schützt und den sozialen Ausgleich als nicht verpflichtend erachtet. Letztlich wird damit alles, was der Gewinnmaximierung nicht förderlich ist, als Handelshemmnis oder Wachstumsbremse stigmatisiert, die beseitigt werden muss. Und Staaten müssen diesem Regime oftmals folgen, da ausreichende internationale Schutzabkommen zu Gunsten Schwächerer und deren Interessen fehlen: In jeder Wirtschaftsbranche gibt es bereits Firmenkonzentrationen mit Monopolcharakter und Konzernen, die „too big to fail“ sind, wie in der Finanzkrise von 2007/2008 zu beobachten war. Das stärkt die Macht der Konzerne, sich länderübergreifend zu organisieren und sich so staatlicher und demokratischer Kontrolle zu entziehen bzw. diese zu bestimmen. In besonderer Weise gefährlich ist diese Tendenz, soweit die Medien und die modernen sozialen Netzwerke betroffen sind, da Demokratie ganz besonders eine möglichst lobbyfreie Berichterstattung braucht – also keine, die von großen multinationalen Konzernen Themen selektierend und bewertend gesteuert ist.

 

„Laudato Si" Nr. 54: Auffallend ist die Schwäche der internationalen politischen Reaktion. Die Unterwerfung der Politik unter die Technologie und das Finanzwesen zeigt sich in der Erfolglosigkeit der Weltgipfel über Umweltfragen. (…) Das Bündnis von Wirtschaft und Technologie klammert am Ende alles aus, was nicht zu seinen unmittelbaren Interessen gehört.

4. Die Würde des Menschen braucht Lebenschancen

In einer neoliberalen Wirtschaftslehre wird der Mensch nicht vorrangig als Persönlichkeit mit Würde, Achtung und Interessen behandelt, sondern als anonymer Konsument oder als Arbeitskraft. Dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklafft, national wie international, ist nur noch eine wirtschaftliche Kennziffer, keine brennende Frage der Würde in und zwischen den Nationen. Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen Menschen interessieren nicht als Teil einer einmaligen Lebenschance, sondern nur als kommerzieller Zweck. Die großen Konzerne fordern für den Schutz ihrer Investitionen Schiedsgerichte - doch wer schafft Schiedsgerichte zum Schutz von Menschenrechten mit der Macht, beachtliche Strafzahlungen bei Verstoß zu verhängen und einzutreiben?

 

So wird das Ziel des Wirtschaftens – allen Menschen gleichermaßen zu dienen – leicht zu einem zu lockeren Lippenbekenntnis. Die neoliberale Wirtschaftslehre setzt vielerorts immer noch auf grenzenloses Wachstum, obwohl die natürlichen Ressourcen endlich, Luft und Wasser an ihre Regenerationsgrenzen gestoßen sind und Schwächere länderübergreifend dafür einen relativ – oft auch absolut – steigenden materiellen und immateriellen Preis zahlen. Die einseitige Wachstumsorientierung gefährdet auch die Verwirklichung zentraler Entwicklungsziele. Auch wenn weltweit die durchschnittliche Nahrungsmittelversorgung gestiegen ist, sind diese Fortschritte nur teilweise und unzureichend bei den von Hunger betroffenen Menschen angekommen und können die Probleme multinational agierender und auf Gewinn ausgerichteter Lebensmittelkonzerne nicht geleugnet werden: hohe Umweltbelastung sowie soziale und ökologische Nachteile bei der Produktion und beim Vertrieb der Nahrungsmittel.

Kommentare (1)

21.07.2022 / 11:13 Uhr

S.E.

Mir gefällt, dass die Autoren hier differenziert mit dem Containerbegriff "Neo-Liberalismus" umgehen; es ist wohl eher eine Geisteshaltung der Einen und ein Feindbild der Anderen statt eine in sich geschlossene wirtschaftswissenschaftliche Theorie. Sehr zu empfehlen ist dazu die Studie "Raus aus der Wachstumsgesellschaft?" der Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik der Deutschen Bischofskonferenz: https://www.dbk-shop.de/media/files_public/b0806684c2a7e95c5f70be8a657acaaa/DBK_1521.pdf