Öko-soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Krise - Debatten zur Umwelt- und Sozialethik in der Katholischen Kirche in Bayern

Glauben zu leben

Unsere Mitwelt – ob wir nun in den Betonwüsten mancher Großstädte und Gewerbegebiete oder in den romantischen Idyllen ländlicher Gärten oder der wilden Schönheit eines Nationalparks sind – ist Schöpfung. An einem lauen Frühlingstag auf dem Balkon einer Münchner Großstadtwohnung kommt an und an eine fleißige Sandwespe vorbei. Sie fliegt über die vierstöckigen Häuser und ihre spitzen Dächer in den Innenhof zielstrebig zu den Schilfhalmen, die als Sichtschutz dienen. Dort findet sie Material für ihr Nest, das sie absägt, unter nicht ganz geringen Mühen herausschleift und mit ihren Beinchen festhaltend über die Hausdächer davon trägt. Nur ein unscheinbares Insekt oder Mitgeschöpf in einer wunderbaren, tagtäglich zum Staunen einladenden Welt?

 

Unsere eigene Würde achten

 

Als Werk Gottes verdient jedes Geschöpf unsere Achtung und Sorge. Das hat mit unserer eigenen Würde zu tun (LS 160). Zugleich ist Schöpfung in ihrer Gesamtheit Selbstmitteilung der Liebe und lebendiges Beziehungsangebot Gottes. „Denn die menschliche Person wächst, reift und heiligt sich zunehmend in dem Maß, in dem sie in Beziehung tritt, wenn sie aus sich selbst herausgeht, um in Gemeinschaft mit Gott, mit den anderen und mit allen Geschöpfen zu leben. […] Alles ist miteinander verbunden, und das lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen zu lassen, die aus dem Geheimnis der Dreifaltigkeit entspringt.“ (LS 240) Das ist viel zu selten Stoff für Predigten. Werbung, Technik, Machbarkeitswahn und Leistungsdruck, aber auch einige Frömmigkeitsformen gaukeln uns vor, unabhängig von den Kreisläufen der Natur und dem ökologischen System und seiner Vielzahl an Untersystemen unseres Heimatplaneten Erde leben zu können. So verkümmert ein wichtiger Teil unseres Glaubens, unserer Lebenshaltung und Spiritualität.

 

Grenzen achten, Mitgefühl haben

 

Schöpfungsspiritualität heißt, in Beziehung leben – mit mir, meinen Mitmenschen und allen Geschöpfen. Achtsam mit mir und meinen Grenzen umgehen, achtsam mit meinem Körper sein, aber noch viel mehr mit der Gemeinschaft, in der ich lebe, zu der ich beitrage und die mich trägt, und mit meiner belebten und unbelebten Mitwelt. Wenn wir ehrlich auf unseren Lebensstil schauen: wo finden wir die Achtung vor unseren Mitgeschöpfen Kalb, Rind, Schwein im Supermarktregal auf der Jagd nach Billigangeboten? Wo die Achtung vor Schwester Eiche, Buche oder Fichte, die unter den heißen Sommern und schwindenden Wasservorräten leiden, bei unserem Einsatz gegen den Klimawandel und freuen uns mit ihnen über den ein oder anderen Regentag? Wo ist unser Mitgefühl für Schwester Kröte, Bruder Feuersalamander oder Schwester Pfauenauge? Kennen wir noch die Namen der Gräser, Sträucher und Bäume, die wir der nächsten Umgehungsstraße opfern? Und wenn wir sie nicht kennen, ist uns ihre Vielfalt und Lebendigkeit, ihre Schönheit und Zärtlichkeit und ihre je eigene Sprache, mit der sie von Gott erzählen, bewusst?

 

So wie wir unsere Gärten anlegen, unsere Straßen und Gewerbegebiete planen, unsere Einkäufe gestalten und unsere Arbeit tun, leben wir in Achtung vor der Lebendigkeit und in Verbundenheit mit unserer Mitwelt oder auch nicht. Schöpfungsspiritualität fragt auch nach unserer Verbindung und unserem Verhalten zum Brennen der Wälder in Amazonien, die der Gier nach Land für Futtermittelanbau, Biosprit und Fleisch oder nach Profit aus Rohstoffen und Holzverkauf für den Export unter anderem zu uns geopfert werden.

 

Als wenn es Gott nicht gäbe

 

Manchmal scheint Nietzsche mit seinem Satz „Gott ist tot“ Recht zu haben: wir handeln in Politik, Wirtschaft und Alltag so, als wenn es Gott nicht gäbe. Leider bisweilen auch in Kirche – wie wir miteinander umgehen, Leitung und Macht gestalten, Veränderung und Wandel kritisch beäugen und, ob Laien oder Kleriker, Männer oder Frauen, in hierarchischem Denken und entsprechenden Strukturen verhaftet sind. Schöpfungsspiritualität ist anders. Sie lebt aus der Kraft und dem Wissen der eigenen – je gleichen – Würde und Verantwortung. Diese achtet die anderen – unabhängig von ihren Titeln oder Machtpositionen – als Menschen, als Mitgeschöpfe und sie vergöttert sie nicht. Sie versucht Räume zur Entfaltung unserer Kreativität zu schaffen. Und wer aus der Schöpfungsspiritualität lebt, steht zu unserer Stärke, Würde und Mitverantwortung für unser eigenes Leben, aber auch für unsere Kirche, unseren Staat und die Weltgemeinschaft.

 

So wie ich bin

 

Schöpfungsspiritualität heißt, zu wissen, dass ich einzigartiges Geschöpf Gottes bin, geliebt, gewollt, berufen – so wie ich bin (vgl. Gen 1-3; Taufliturgie). Als Mann und Frau, als Kind und Greisin, als Priester oder Laie, im pastoralen Dienst oder ehrenamtlich engagiert. Wir alle sind lebendige Zeugen der Liebe Gottes und der lebendigen, schöpferisch-kreativen Geistkraft. Schöpfungsspiritualität macht das Leben reich an Schönheit und Staunen, an Verbundenheit und Vielfalt, aber auch an Mitgefühl. Sie lässt uns voller Vertrauen auf Welt und Mitmenschen zugehen, miteinander das Leben teilen und feiern und Gottes Spuren im Großen und Kleinen entdecken. Sie macht das Leben anstrengend, weil sie uns unsere große Verantwortung als Hüter des Gartens, aber auch für unsere fernen und nahen Nächsten bewusst macht.

 

"Schöpfungsspiritualität heißt, in Beziehung leben – mit mir, meinen Mitmenschen und allen Geschöpfen."

 

Wir haben die Macht, die Erde und ihre lebendige Vielfalt zu zerstören – als Einzelne und als Gemeinschaft. Wir alle leben bewusst oder unbewusst, vermutlich ungewollt auf Kosten anderer Menschen. Wir können aber auch anders. Damit das gelingt, braucht es die bewussten Kaufentscheidungen im Kleinen – orientiert an Umwelt- und Menschrechtsstandards und nicht am geringsten Preis, den Verzicht auf unnötiges Plastik und Autofahren, die Bereitschaft zu Diskussion und Reibung mit Menschen außerhalb meiner bürgerlichen, katholischen oder wohl etablierten Blase. Es braucht aber auch den Einsatz für politische, wirtschaftliche Rahmenbedingungen zur Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards, das beherzte Eintreten gegen Menschenfeindlichkeit, physische und verbale Gewalt und die mutige Auseinandersetzung mit allen, die derartige Parolen vertreten. Es braucht eine vierfache Umkehr wie in Querida Amazonina von Papst Franziskus gefordert: pastoral, kulturell, ökologisch und synodal.

 

Fröhlich, kreativ, mutig Es braucht ein Ernstnehmen unserer Verantwortung und Hörbereitschaft. Schöpfungsspiritualität achtet alles Lebendige und lebt die Weisheit und Stärke, die Vielfalt und den Reichtum, die Fruchtbarkeit und Schöpferkraft der Frauen und Männer verschiedener Kulturen und Spiritualitäten. Sie ermutigt Menschen, ihre Talente fröhlich, kreativ und mutig zu entfalten. Kirche kann dabei helfen, wenn sie den Mut hat „semper reformanda“ und „hörende“ zu sein – und weiblicher zu werden, um sich nicht länger die Hälfte aller Weisheit und Leitungsqualitäten zu versagen.

 

"Schöpfungsspiritualität macht das Leben reich an Schönheit und Staunen, an Verbundenheit und Vielfalt, aber auch an Mitgefühl."

 

Die Umkehr zum Leben beginnt damit, wie wir unseren Tag beginnen und beenden und dazwischen leben. Warum nicht aus unserer Schöpfungsspiritualität heraus am Morgen für unser Leben, die Ruhe der Nacht und unsere Lebendigkeit danken, am Mittag kurz innehalten und das eigene Arbeiten und die Sorgen in Gottes Hände legen und am Abend dankbar benennen, was uns im Lauf des Tages an Wunderbarem geschenkt wurde und in Gottes wandelnde Hände legen, was schwer war, misslang oder zum Himmel schreit? Dann wächst vielleicht anfangs zart und mit der Zeit immer größer die Kraft und der Mut, meine Frau und meinen Mann in Kirche und Welt zu stehen – leidenschaftlich, frei und streitbar, für eine gute Zukunft für alle in einer lebendigen Kirche.