Energie aus Biomasse – Flexibilisierung von Kläranlagen

3.3 Struktur und Vorgehen einer ethischen Reflexion

Wenn umweltethisch gefragt wird, wie die Auswirkungen menschlichen Handelns auf „die Umwelt“ zu bewerten sind, wird diese üblicherweise zur Strukturierung der Diskussion in Teilbereiche gegliedert, z.B. Boden, Wasser, Luft, Klima, Flora, Fauna.

Hinsichtlich Flora und Fauna ist v.a. deren Diversität relevant, sodass sich für die ethische Bewertung eines Vorhabens ergänzend zu Flora und Fauna oder auch alternativ dazu ein Bereich Biodiversität definieren lässt.

Anknüpfend an das Konzept der „planetary boundaries“ sollten als weiterer „Bereich“ Stoffkreisläufe – insbesondere der Stickstoff- und Phosphorkreislauf – ergänzt werden, die zu den genannten Umweltbereichen gleichsam querliegen, einen wichtigen Aspekt des Gesamt-Ökosystems ausmachen und gerade mit Blick auf Abwasserbehandlung ohnehin thematisiert werden.

Nach dem jetzigen Kenntnisstand empfiehlt sich also eine Strukturierung der umweltethischen Diskussion von FLYsynErgy anhand der Bereiche

 

·         Klima

·         Luft

·         Wasser

·         Boden

·         Flora/Fauna/Biodiversität

·         Stoffkreisläufe

Die hier gewählte Reihenfolge muss keine inhaltliche Priorisierung darstellen.

 

Für alle genannten Umweltbereiche bzw. Stoffkreisläufe stellt sich die Frage, wie sich hier eine Realisierung des Projektvorhabens – ggf. differenziert nach unterschiedlichen Optionen und Szenarien – voraussichtlich direkt und indirekt auswirken würde und wie diese (mögliche) Auswirkung in umweltethischer Hinsicht zu bewerten ist. Diese umweltethische Hinsicht lässt sich vorläufig wie folgt formulieren:

 

Inwiefern (neutral, positiv, negativ) beeinflusst die prognostizierte Auswirkung hinsichtlich dieses Umweltbereichs bzw. Stoffkreislaufes die Stabilität und Funktionstüchtigkeit des Gesamt-Ökosystems?

 

In einem ähnlichen Sinne und anknüpfend an das genannte Konzept der „planetary boundaries“ ließe sich auch fragen, inwiefern die jeweilige Auswirkung neutral, hilfreich oder hinderlich ist, die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten zu beachten und den „safe space“ der Menschheit zu bewahren.

 

Leitend ist also zumindest zunächst eine offensichtlich primär anthropozentrisch formulierte umweltethische Hinsicht: Es geht um die zu wahrende Funktionalität des Ökosystems für die Menschheit und für das gute Leben der Menschen. Gleichwohl sollte die umweltethische Diskussion immer wieder hinsichtlich ihrer Bewertungskriterien reflektiert und ggf. erweitert werden um Aspekte, die nicht in dieser menschen-bezogenen Funktionalität aufgehen und die nicht allein natürliche (Über-)Lebensbedingungen betreffen.

 

Die skizzierte umweltethische Perspektive geht in einem gewissen Sinne über eine rechtliche Perspektive hinaus. Selbstverständlich müssen alle Optionen des Projektvorhabens auch auf ihre Übereinstimmung mit gesetzlichen Regelungen insbesondere umweltrechtlicher Art überprüft werden. Diese dienen ja dazu, gewisse Standards, die auch in umweltethischer Hinsicht zu begrüßen sind, zu sichern – unabhängig davon, ob die Akteur*innen über eine moralische Motivation dazu verfügen. Gleichwohl können Optionen, die in rein rechtlicher Perspektive erlaubt wären, in (umwelt-)ethischer Perspektive problematisch sein. Zugleich können sich in einer (umwelt-)ethischen Reflexion Hinweise ergeben, inwiefern gesetzliche Regelungen ggf. weiterentwickelt werden sollten.

Eine vorläufige Fragestellung zur umweltethischen Diskussion

Auf dieser Basis lässt sich eine vorläufige Fragestellung formulieren, welche die im Projektverlauf erfolgende umweltethische Diskussion leiten kann, freilich noch im weiteren Verlauf differenziert, vertieft, und ergänzt werden muss:

 

Auf welche Weise können Kläranlagen möglichst viel (weitgehend) klimaneutrale Energie erzeugen und flexibel-nachfrageorientiert bereitstellen und dabei

 

·         ihren Kernauftrag (Gewässer- und Gesundheitsschutz) in keiner Weise beeinträchtigen

·         Emissionen anderer Treibhausgase zumindest nicht erhöhen, besser noch reduzieren

·         Schadstoffbelastung durch eine spätere Ausbringung des verwerteten Klärschlamms zumindest nicht erhöhen

·         Geruchsemissionen und toxische Emissionen zumindest nicht erhöhen, besser noch reduzieren

·         Möglichkeiten der Phosphor-Rückgewinnung zumindest nicht beeinträchtigen, besser noch steigern

 

Zur umfassenden Bearbeitung dieser Frage müssen sowohl Prozesse innerhalb der Kläranlage als auch vor- und nachgelagerte Prozesse berücksichtigt werden.

 

Auch wenn nur Rest- und Abfallstoffe als Co-Substrate verwendet werden sollen – was im Prinzip auch aufgrund des bislang zu wenig genutzten Potentials dieser Stoffe und aufgrund der Problematik eigens angebauter Biomasse umweltethisch zu begrüßen ist – muss

 

·         erstens gefragt werden, ob eine stoffliche Verwertung oder auch die energetische Verwendung dieser Stoffe an anderen Orten eine bessere Ökobilanz aufweist und damit umweltethisch zu bevorzugen ist,

·         zweitens bedacht werden, ob insbesondere die Verwendung von überlagerten Lebensmitteln und anderen Formen des „food waste“ u.U. Anreize reduziert, diesen spezifischen Abfall von vornherein zu vermeiden.

 

Zwar ist die energetische Nutzung dieses Abfalls auch umweltethisch zu begrüßen – allerdings wäre es noch besser, er würde gar nicht erst anfallen: „Maßnahmen, die eine verstärkte Nutzung von Rest- und Abfallstoffen anreizen, sollten ausschließlich dazu führen, dass vorhandene Rest- und Abfallstoffe effizienter genutzt wer-den. Anreize, die zur Generierung zusätzlicher Rest- und Abfallstoffe führen, sollten vermieden werden.“ (Achatec)

 

Neben den umweltethisch zu bedenkenden Auswirkungen auf Umweltbereiche und Stoffkreisläufe sind auch direkte und indirekte Auswirkungen eines komplexen Vorhabens auf Menschen und Gesellschaft ethisch zu reflektieren:

 

In welcher Weise wird das Projekt – ggf. nach Optionen und Szenarien differenziert – die unterschiedlichen Anspruchsgruppen betreffen? Was sollte aus ihrer Interessensperspektive heraus geschehen und was nicht? Inwiefern können diese Interessen als legitim und begründet gelten? Welches Interesse ist in dem Sinne ein moralischer Anspruch, dass er in der Ausgestaltung des Projekts (mit welcher Priorität) beachtet werden soll, auch dann, wenn er über einen gesetzlich verbrieften Rechtsanspruch hinausgeht? Welches Interesse ist zwar legitim und nachvollziehbar, aber doch dergestalt, dass keine (schwerwiegende) moralische Verpflichtung für Andere (v.a. für das Projekt) daraus erwächst? Und welches Interesse ist u.U. in moralischer Hinsicht so unbegründet, dass es in keiner Weise berücksichtigt werden muss?

 

Relevant sind hier v.a. Kriterien der Gerechtigkeit, die sich in drei Fragerichtungen differenzieren lassen:

·         Worauf (und wem gegenüber) haben Menschen im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit einen Anspruch, weil nur so die notwendigen Voraussetzungen von Wohlergehen, Autonomie und Teilhabe gegeben sind?

·         Worauf (und wem gegenüber) haben Menschen im Sinne von Leistungs- und Austauschgerechtigkeit einen Anspruch, weil nur so die gebotene Balance zwischen Leistung und Gegenleistung gewahrt werden kann?

·         Worauf (und wem gegenüber) haben Menschen im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit einen An-spruch, weil nur so die faire Zuteilung von Gütern und Chancen, aber auch von Lasten und Kosten erfolgen kann?

 

Im Abschnitt 4 sollen dann die möglichen Auswirkungen auf Umweltbereiche und Stoffkreisläufe sowie indirekte Folgewirkungen ethisch reflektiert werden; im Abschnitt 5 Rahmenbedingungen, Regelwerke und Anreizstrukturen dahingehend geprüft werden, ob sie ein in ethischer Hinsicht wünschenswertes Handeln ermöglichen und erleichtern und inwiefern sie dabei auch Kriterien der Gerechtigkeit berücksichtigen.

Text: Dr. Thomas Steinforth